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zu den Anfängen

Historisches zu den autofreien Sonntagen in Bern (persönlich gefärbte Kollektion von Duscha Padrutt*)

5. Juli 1936
Die damals unter „Via Vita“ zusammengeschlossenen Automobilverbände rufen aus Protest gegen Benzinpreiserhöhungen einen autofreien Sonntag aus. Die damals noch grosse Mehrheit der Fussgängerinnen und Radfahrer jubelt im Berner „Bund“:

War das ein Genuss zu wandeln auf breiten Strassen zwischen wogenden Ährenfeldern, reine Luft zu atmen und ungestört in vollen Zügen zu geniessen bis tief in die Abendstille, die einen heute so seltsam berührt. Überall derselbe Wunsch: Dass er wiederkehren möge dieser Sonntag.“  

1973: Erdölkrise
Der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt verfügt nach dem Vorbild der Niederlande vier autofreie Sonntage als Energiesparmassnahme. In der Schweiz sind es drei. Der Spareffekt dürfte verglichen mit den gleichzeitig verhängten Tempolimiten bescheiden sein. Die leeren Strassen führen der Welt jedoch die kurz zuvor vom Club of Rome deklarierten „Grenzen des Wachstums“ eindrücklich vor Augen. Der legendäre Volksfestcharakter auf den Autobahnen scheint allen, die es erlebt haben, in bester Erinnerung.

1974: Initiative für 12 autofreie Sonntage
Den Sonntagstraum sogleich institutionalisieren will 1974 eine Gruppe von ETH-Studierenden aus Burgdorf. Ein nationales Komittee lanciert die „Burgdorfer Intiative“ und argumentiert spielerisch mit Sonntagsruhe, touristischer Attraktion und persönlicher Freiheit der „Nicht-Autofahrenden“ und Strassenanwohnenden. Erhalten ist u.a. ein Film zur Freilicht-Aufführung auf der Burgdorfer Matte (?), Fotomaterial und eine Single mit Liedern von Fritz Widmer, Gusti Pollak und Matthias Etter. Die Eltern der Autorin* instrumentalisieren die Tochter für einen Kurzauftritt mit Bernhardiner-Hund, was dieser gefällt.

Fotos & Cover Single
Fotos erste Flyer-Verteil-Aktion der Autorin auf dem Zürcher Bellevue

70er Jahre: Mobiltätsdebatte
Das Parlament verwirft die Burgdorfer-Initiative und Gegenvorschläge. Das Anliegen erzielt 1978 mit 36% einen Achtungserfolg, hat jedoch wie die ebenfalls gescheiterten Albatros- und Nationalstrassen-Initiativen eine breite Mobilitätsdebatte lanciert: Organisationen wie der VCS und Pro Velo mit Sektionen in den Städten enstehen als Alternativen zu TCS und ACS, welche in den Abstimmungskämpfen ablehnende Positionen einnehmen. In Bern und anderswo werden erste überrissene Autoprojekte wie die „H-Lösung“ über den Waisenhausplatz in letzter Minute gestoppt. Der Verkehrspolizist beim Zytglogge wird durch eine „Zellenlösung“ ersetzt (Zugang fürs Auto, aber keine Quer-Durchfahrt mehr). Die Autorin liest die unendliche Geschichte von Michael Ende und ist fasziniert von der zweifarbigen Schrift.

80er Jahre: die kleine Freiheit
In den 80er-Jahren setzt sich eine wachsende, pragmatische Bewegung ein für Begegnungszonen, Flaniermeilen, autoarme Neubausiedlungen, nachhaltige Modellquartiere, autofreie Tourismusorte sowie Erlebnistage. Strassen und Plätze werden zeitlich oder örtlich begrenzt für Autos gesperrt und vielfältig genutzt. Der Mountain-Bike-Boom holt das Velo definitiv zurück in den Alltag. Velohändler in Bern gehört zu den Pionieren. Dennoch geht der (Umfahrungs-)Strassenbau unvermindert weiter. Die Autorin lebt im autofreien Braunwald, wo sie die Abendstille schätzen lernt.

90er-Jahre: rot-grün-mitte Städte und „Läbigi Stadt“
Velo- und Flanierkultur werden trendy, Nachhaltigkeitsdebatten dringlicher, Städte erhalten rot-grün-mitte Mehrheiten und das Ringen um den begrenzten Raum wird energischer/realistischer.  In verschiedenen Städten formieren sich radikalere Anliegen: Zürich autofrei, Basel autofrei, Verkehrshalbierungsinitiative. In Bern wird bewusst ein positiver Ansatz gewählt und die „Wohn-Initiative Läbigi Stadt“lanciert. Die Autorin studiert zu dieser Zeit Jura in Bern, schreibt eine Lizentiatsarbeit zur „Würde der Kreatur“ in der Bundesverfassung, leidet gelähmten Stimmung in Bern und bekommt vom Frühling, der nach den Wahlen 1994 einsetzt, wenig mit.

Foto LS-Aktion auf Verkehrsinsel

00er-Jahre: Visualisierungen und Rückschläge
Die „Verkehrshalbierungs“-Initiative von umverkehR lanciert 2000 eine weitere nationale Debatte. Die Autorin möchte nicht mehr als Juristin arbeiten und nimmt einen Job als Co-Geschäftsleiterin bei umverkehR an. Die Autorin verliebt sich bei diesen Arbeiten in einen Berner und zieht 1999 wieder nach Bern. Seither engagiert sie sich für Läbigi Stadt im Vorstand. Da das Ziel der umverkehR-Initiatve an sich relativ ambitioniert ist (Halbierung des motorisierten Strassenverkehrs innert 10 Jahren), scheitert die Initiative trotz der pragmatisch geführten Debatte über Carsharing und Tempo 30 relativ haushoch mit 21.3%. Auch die flächendeckende Einführung von Tempo 30 bleibt das Jahr drauf chancenlos. 2003 scheitert eine Initiative der Grünen ? für 4 autofreie Sonntage im Jahr.

Bild: Läbigi Stadt organisiert inspiriert durch die Ausstellung „Alptraum Auto“ eine Visualisierung auf dem Bundesplatz.

In Italien sind derweil seit 2000 an vier Sonntagen im Jahr die Zentren von 150 Städten tagsüber vom Autoverkehr befreit. In Paris ist das rechte Seine-Ufer seit XY an allen Wochenenden des Jahres und den ganzen August tagsüber für Motorfahrzeuge tabu. 

In Bern überweist der Stadtrat die Piazza-Motion von Läbigi Stadt für eine autofreie Piazza pro Quartier (Piazza-Motion) und als Reaktion auf den Car-Free City Day am 22. September, der jeweils nur wenig Platz bewilligt erhält, 2004 die interfraktionelle Motion von GB/JA!, GFL/EVP, SP für 4 autofreie Sonntage im Jahr. Im gleichen Jahr verpasst die Initiative für ein autofreies Viererfeld knapp die Mehrheit. Ebenso scheitert  2009 der autofreie Bahhnhofplatz knapp Die Autorin leitet nun eine Allergiestiftung und arbeitet später 2 Jahre als Co-Leiterin von StattLand.Gemeinsam mit Läbigi Stadt entsteht 2008 der Schauspiel-Rundgang „Bern Verkehrt“

Läbigi Stadt einen „Freeze“ auf dem autofreien Bahnhofplatz, da die Menschen zu früh stillstanden, interpretierte der Bund dies als Schweigeminute 🙂

10er-Jahre: Velo-Offensive, Klimawandel und autofreie Sonntage in Bern
Während Städte wie Kopenhagen oder Amsterdam seit den 70er-Jahren aufs Velo setzten und heute von einem komplett transformierten Stadtbild profitieren, erfasst dieser Trend Bern in vollem Ausmass erst jetzt: Ursula Wyss lanciert die Velo-Offensice und beginnt, die Strassen konsequenter velo- und flanierfreundlich umzugestalten. Sie erntet Widerstand. Die Autorin nimmt 2009 einen Job bei myclimate an, um eine Klimapolitikfachstelle. Sie vertieft sich mit bleibenden Unbehagen in die Instrumente des Emissionshandels, nimmt mit Zug und Schiff an die Klimakonferenz in Kopenhagen und gründet u.a. mit Swiss-Cleantech eine Alternative zur Energieagentur der Wirtschaft von economiesuisse. Sie erfährt zum ersten Mal, wie schlimm es wirklich um unsere Welt steht. Besonders die „Tipping Points“ lassen sie nachts nicht mehr schlafen und sie engagiert sich in jeder freien Minute für Läbigi Stadt.

2011
Das Amt für Umweltschutz organisiert in Umsetzung der Motion von 2004 2011 den ersten grösseren autofreien Sonntag, der zweimal im Jahr stattfinden soll. 25’000 Teilnehmende geniessen den Tag. Läbigi Stadt inszeniert eine vorher/nachher Aktion. Bild

2012
Der Stadtrat beschliesst statt einer „Bienale“ 2 autofreie Sonntage in den Quartieren, bei denen die Anwohner/innen selber aktiv werden, ohne Organisation seitens Stadt. Aktiv werden vor allem die Organisationen und Parteien der Mobilitätskonferenz. Es ist einmal der heisseste Tag im Jahr und einmal Regenwetter, worauf der Gemeinderat die Mittel für 2013 auf einen autofreien Sonntag pro Jahr kürzt.

Foto: Aktion 12 „Hörstühle“ von Läbigi Stadt in der Länggasse
Dusch-Stuhl und Bar-Hocker von Atelier Müller-Lütolf

Foto: Breitenrain im Regen

2013
Um das Gefäss zu retten, beantragen Läbigi Stadt, das OK Herzogstrassenfest und der Dialog Nordquartier einen gemeinsamen Anlass im September 2021.
Viele Läden und Restaurants beteiligen sich. Ideen, welche sich später vergrössern, enstehen kollaborativ: eine Ausstellung und der Film Human Scale von Jan Gehl im Kino ABC, eine Veloschaufenster-Ausstellung durch eine Promenadologin (Tatjana Werik) geführter Musik-Rundgang, ein grosses Holzvelo von Janeth Berrettini, das am Vortag am Herzogstrassenfest als Performance entsteht,  eine Oldtimervelo-Parade  rund um die Velos des Velokurierladens. Die Autorin startet eine Theaterpädagogik-Weiterbildung in Heidelberg und verlässt myclimate, weil sie merkt, dass sie mit juristischen Instrumenten nicht weiter kommt.
Bild AfSo

2014-2018
… um das Kulturprogramm zu stemmen und die Anliegen der Organisationen der Mobilitätskonferenz zu bündeln, wird der Verein Netzwerk Quartierzeit gegründet und stellt die Autorin als Geschäftsleiterin ein. Das schöne Wetter lockt am 19. Oktober 2014 10’000 Besuchende an und der Anlass kann in die Länggasse (2015) und weiter wandern: für zwei Jahre im Mattenhof (2016 und 2017 kombiniert mit der Eigerplatzeröffnung) und danach ins Kirchenfeld-Museumsquartier (2018).

2019/2020
Da für eine erneute Durchführung 2019 im Kirchenfeld kein Datum gefunden werden kann, wird der autofreie Sonntag 2019 ein letztes Mal durch das AfU am Carfree-City-Day durchgeführt. 2020 wird er Defiizit und Pandemiebedingt gestrichen. Die Autorin engagiert sich für den Berner Velofrühling.

2021
Der Lock-Down mit den leeren Strassen und der Rückzug in die digitalen Öffentlichkeiten haben auch die Autorin „seltsam berührt“ und und die Sehnsucht nach noch radikaleren Träumen gebracht. Quartierzeit unterstützt alles, was die eingangs zitierte Sonntagsstimmung und die Nachtigall, welche in der Abendstille singt, in die Stadt zurückholt. Erste Herzensprojekte finden sich hier.

 

 

 

 

 

 

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